Die Königin des Winters
Seit über 200 Jahren werden in Sachsen Kamelien gezüchtet
Nur über meine Leiche«, soll Gärtner Siegfried Jähne gesagt haben, als »Schneeweißchen« und »Rosenrot« 1970 aus dem Paradies vertrieben werden sollten. Länger als 150 Jahre hatten sie ihren Platz im Gewächshaus des Königsbrücker Schlosses behaupten können, nun sollten sie ihn für Radieschen und Salatköpfe räumen. Doch »Suppengrün«, wie Jähne gerufen wurde, widersetzte sich der Forderung und rettete den Kamelien das Leben.
Die seit einigen Wochen wieder üppig weiß und rot blühenden Bäume gehören zu den ältesten in Sachsen. Graf von Hohenthal, der einstige Besitzer des sächsischen Schlosses unweit von Dresden, hatte sich die Pflanzen um 1820 in ein Gewächshaus im Schlosspark setzen lassen. Ganz nach dem Motto: Was der Hof in Dresden kann, kann ich schon lange! Kamelien zu besitzen, galt Anfang des 19. Jahrhunderts als schick und standesgemäß. Doch nur die hochherrschaftliche Familie und ein paar auserwählte Gäste bekamen die prachtvollen exotischen Blüten zu sehen. Auch lange nach des Grafen Zeit bis zur Jahrtausendwende änderte sich nicht viel daran: Nach 1945 wurde das Kamelienhaus dem Volkseigenen Gut zugeschlagen, das schon bald einen Teil der für sie nutzlosen Pflanzen entfernen ließ, bis Suppengrün kam und wenigstens die Methusalems rettete. Nach der Wende nahm sich der Heimatverein Königsbrück der Pflanzen an und öffnete am 16. Januar 2000 das Kamelienhaus erstmals für jedermann. Während die Besucher vor allem über die Blütenschönheiten staunten, war die Fachwelt außer sich: So alte Kamelien in Königsbrück zu finden, glich einer Sensation. Was sich wenige Tage später in dem 4000-Seelen-Städtchen abspielte, wird Peter Sonntag vom Heimatverein nie vergessen: »5000 Menschen wollten an einem einzigen Nachmittag ›Schneeweißchen‹ und ›Rosenrot‹ sehen. Rund einen halben Kilometer lang war die Schlange.« Heute wachsen in dem Gewächshaus 27 Kamelien, und die Königsbrücker, die, so Sonntag, »vor 20 Jahren noch nicht wussten, wie man Kamelie schreibt, sind heute stolz wie Bolle auf ihre Exoten«.
Genauso wie die Einwohner von Roßwein, einer Kleinstadt im Sächsischen Berg- und Heideland. Hier ließ sich 1797 ein Graf Einsiedel eine Orangerie erbauen, in die er neben zwei weiteren eine Camelia japonica Alba Plena setzen ließ, die sich auch nach mehr als 200 Jahren alljährlich ab Februar mit unzähligen großen weißen gefüllten Blüten schmückt. Auch in Roßwein war es ein rühriger Heimatverein, der nach der Wende das Schattendasein des baufälligen Gewächshauses beendete und es mit viel Liebe zu einer Besucherattraktion machte. Dass die Alba Plena heute die älteste gefüllte Kamelie nördlich der Alpen ist, verdankt auch sie einem »Suppengrün« – dem Tischler Emil Heller. Er war es, der nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Gewächshaus nur noch eine unbeachtete Ruine war, unermüdlich Holz heranschleppte, um die Kamelien vor dem Erfrieren zu retten. Bis 1990, als er 100-jährig starb, kümmerte sich Emil Heller um die Schätze, heute hätschelt sie Stadtgärtner Ingo Kirschstein und achtet penibel auf ihr Wohlergehen.
Die berühmte Pillnitzer Kamelie war zum Glück nie auf einen »Suppengrün« angewiesen. Im Gegenteil: Irgend wie hatte sie immer einen Schutzengel. Man vermutet, dass sie Peter Thunberg, ein schwedischer Botaniker, als eine von vier Pflanzen 1776 von einer Japanreise mitbrachte. Während von den drei anderen, die nach Hannover, Kew bei London und Schönbrunn gekommen sein sollen, heute jede Spur fehlt, erfreut sich die Pillnitzer bester Gesundheit. Sie steht noch immer an der gleichen Stelle im Schlosspark, an die sie Hofgärtner Terscheck 1801 pflanzte. Von Anfang an bekam sie im Winter einen dicken »Mantel« gegen den Frost – erst aus Stroh und Bastmatten, später ein Holzhaus, seit 1992 ein fahrbares computergesteuertes 16-eckiges Glashaus, das in der warmen Jahreszeit einfach auf Schienen weggerollt wird. Die mit über 250 Jahren älteste und größte Kamelie Europas nördlich der Alpen hat mittlerweile eine Höhe von 8,90 Meter, misst elf Meter im Durchmesser und 33 Meter im Umfang. Wenn sie alljährlich im Februar ihr rotes Kleid aus Zehntausenden Blüten anlegt, ist sie der Superstar im 36 Hektar großen Pillnitzer Park. Kamelienfreunde aus aller Welt pilgern dann hierher, um ihrer Schönheit zu huldigen. Schlossparkgartenchef Wolfgang Friebel erinnert sich an eine Gruppe älterer Japaner: »Eigentlich sagt man denen ja nach, dass sie eher zurückhaltend seien. Diese aber bestaunten laut jauchzend vor Begeisterung die Blütenpracht und konnten sich gar nicht wieder beruhigen.«
Hier im Pillnitzer Park nahm die sächsische Kamelien-Manie mit König Friedrich August dem Gerechten (1750-1827) ihren Anfang. Als Politiker hatte er kein glückliches Händchen, als »Botaniker auf dem Thron«, wie viele ihn bezeichnen, dafür um so mehr. Er sammelte Pflanzen, gründete den Botanischen Garten Dresden und ließ seinem Hofgärtner Johann Heinrich Seidel größte Freiräume, bei dem 1792 die erste Kamelie blühte. Seidel begann mit der Zucht, die später von seinem jüngsten Sohn Jakob Friedrich fortgeführt wurde. So erfolgreich, dass er als »Kamelienseidel« in die Geschichte einging.
Doch warum wurde gerade Sachsen zu einer Hochburg der europäischen Kamelienzucht? »Seit August dem Starken liebten die sächsischen Herrscher alles Fernöstliche«, erzählt Friebel. »Park und Schloss Pillnitz sind wie ein aufgeschlagenes Buch des Zeitgeschmacks. Man muss sich nur den Baustil und die chinesischen Bemalungen des Bergpalais’ anschauen.« Dass die in China und Japan heimischen Kamelien, die zur Familie der Teestrauchgewächse gehören, in Sachsen seit mehr als 200 Jahren so gut gedeihen, ist aber nicht nur leidenschaftlichen Gärtnern und Sammlern zu verdanken, sondern auch klimatischen Bedingungen wie den relativ geringen Frösten und vor allem dem kalkfreien Wasser. Denn extreme Kälte und kalkhaltiges Wasser bekommen der Kamelie überhaupt nicht. Sie liebt schwach sauren Boden, im Winter Temperaturen von zwei bis acht Grad, im Sommer ein helles Plätzchen ohne direkte Sonne und eine möglichst hohe Luftfeuchtigkeit.
Wenn man ihr das bietet, dann lohnt es die »Königin des Winters« mit reichem Blütenflor. Die Kamelie ist so etwas wie die erste Berührung des Frühlings. »Wahrscheinlich lieben viele sie auch deshalb so, weil sie blüht, wenn in der Natur noch alles grau in grau ist«, sagt Matthias Riedel, Chef der Botanischen Sammlungen der TU Dresden, die im Landschloss Pirna-Zuschendorf ihren Sitz hat. Riedel darf man getrost als den sächsischen Kamelien-Papst bezeichnen, und auch er ist ein »Suppengrün«. Denn: Als nach 1990 im Umland viele Gewächshäuser verschwanden, um Platz für Bauland zu schaffen, sammelten er und seine Mitstreiter daraus botanische Raritäten ein, darunter viele Kamelien aus der Seidelschen Sammlung, und gaben ihnen in Zuschendorf eine neue Heimat. Auch zwei der einst 42 Gewächshäuser der 1915 gegründeten »Königlichen Hofgärtnerei Pillnitz« konnten gerettet und in Zuschendorf wieder aufgebaut werden. Seit 2004 findet alljährlich im Landschloss eine Kamelienblütenschau mit über 500 Sorten statt, die auch deutlich macht, warum man die Pflanze auch Schauspielerin unter den Blumen nennt. Manche Blüten sehen aus wie eine Dahlie, andere erinnern an Rosen, Hibiskus, Magnolien, einen Weihnachtsstern oder Christrosen. »Rund 60 000 Sorten gibt es weltweit, 2000 in Deutschland, 350 haben wir hier in Zuschendorf«, erzählt Riedel. »Das hier ist eine ›Higo‹«, zeigt er auf eine rote Blüte, deren Mitte 200 goldgelbe Staubgefäße schmücken. »Die gibt es schon seit Jahrhunderten, nur keiner hat es gewusst, weil sie die Samurai hinter hohen Mauern züchteten.« Dekorativ sind die Ausstellungsblüten in Vasen, Schalen oder auf Tellern drapiert, da scheint es unmöglich, die Schönste der Schönen zu küren. Und doch geschieht das Wunder jedes Jahr erneut: 2015 wählten die Besucher die »Kujaku-ibrido« auf den Thron, eine Japanerin, die an eine Lilie erinnert.
Bleibt die Frage, was es mit der Kameliendame auf sich hat, der Alexandre Dumas ein literarisches Denkmal setzte. »Die Kurtisane trug immer eine Kamelie im Haar«, sagt Riedel, »eine Winterblüte ohne Duft, die als ein Symbol für käufliche und unerfüllte Liebe, der Finsternis und des Verborgenen galt.«
Apropos käuflich: Kamelien kann man inzwischen in jedem Blumenladen kaufen. Doch Riedel rät, die Finger davon zu lassen, wenn man kein Gewächshaus hat. In der warmen Wohnung würde sie sofort alle Blüten abwerfen, im Garten den ersten Winter nicht überstehen. Die Sehnsucht nach der »Königin des Winters« könne man besser in Königsbrück, Roßwein, Pillnitz oder Zuschendorf stillen. Noch bis Anfang April.
Infos:
Pillnitzer Kamelie:
Das Kamelienhaus im Pillnitzer Schlosspark ist bis Mitte April täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet.
Duftkamelien gibt es im Botanischen Blindengarten des Taubblindendienst e.V. Radeberg,
geöffnet Mittwoch und Samstag, 11 bis 16 Uhr
Tel.: (03528) 4397-0
Allgemeine touristische Infos zu Sachsen:
Neues Deutschland vom 14/15 März 2015 von Heidi Diehl